Von Marc-André Dalbavie
»Ich werde mir die Kunst erobern, nach der Natur und nach der Phantasie, nach meiner Natur und meiner Phantasie.« (Charlotte)
Leben? Oder Theater? nannte Charlotte Salomon den gewaltigen Gouachen-Zyklus, der zugleich ihr Vermächtnis darstellt. Ein denkwürdiger Titel für die gemalte Autobiografie eines jüdischen Mädchens, das im Berlin der Goldenen Zwanziger- und nicht mehr ganz so goldenen Dreißigerjahre aufwächst. Doch anders als bei einem herkömmlichen Tagebuch sind alle Bilder ausschließlich aus der Erinnerung gefertigt, nicht aus frischen Eindrücken. In diesem feinen Unterschied steckt ein ganzes Schicksal: Soeben an der Kunsthochschule in Berlin aufgenommen, muss Charlotte Salomon 1939 nach Südfrankreich fliehen, erst 22 Jahre alt – mit kaum etwas anderem im Gepäck als Schallplatten, darauf der Gesang ihrer geliebten Stiefmutter. Musik und Malen werden ihr zum Erinnerungsraum, in nur 18 Monaten malt sie 1325 Gouachen, die sie selbst beschriftet und zum »autobiographischen Singespiel« zusammenstellt.
Bilder und Worte fügten sich für den 1961 geborenen Marc-André Dalbavie wie von selbst zum Opernstoff. Dalbavie studierte in Paris u. a. bei Pierre Boulez, arbeitete fünf Jahre am legendären Pariser IRCAM, lebte in Berlin und Rom und ist seit 1996 Professor für Instrumentationslehre am Conservatoire de Paris. Sein Stilmittel ist die Spektralmusik: »Man greift auf Harmonien der Vergangenheit, der Gegenwart und einer unbekannten Zukunft zu. Deshalb kann ich auch, ohne zu verzerren, andere Musik integrieren.«
Jenseits ihres tragischen Schicksals – Charlotte Salomon wurde 1943 in Auschwitz ermordet, im fünften Monat schwanger –, ja, sogar jenseits eines historisch-biografischen Korsetts ist Dalbavies bei den Salzburger Festspielen 2014 uraufgeführte Oper eine zeitlos artifizielle Referenz an eine außergewöhnliche junge Frau, die immer feindlicheren Lebensumständen mit ihrer Kunst begegnete und ein berührendes Lebenswerk hinterlassen hat.